Lexikon
Lebensraum Autobahn?
Brütende Hitze im Sommer, Wagenladungen voller Streusalz im Winter, dazu ständiger Lärm, Abgase und karger Boden - kann man sich einen extremeren Lebensraum vorstellen als den Mittelstreifen der Autobahn? Und trotzdem ist ganz schön was los auf der Straße - auch zwischen den Fahrspuren.
Erstaunliche Vielfalt bei den Pflanzen
Die Autobahn A 40 zwischen den Großstädten Duisburg und Dortmund im Ruhrgebiet war vor einigen Jahren einen ganzen Tag lang gesperrt. Biologen nutzten die Gelegenheit und untersuchten den Mittelstreifen und die Randstreifen der 60 Kilometer langen Strecke. Sie fanden erstaunlich viele verschiedene Pflanzenarten. Darunter waren viele Spezialisten, die perfekt an ihren unwirtlichen Lebensraum angepasst waren.
Einwanderer aus aller Welt
Kraut von der Küste
Zum Beispiel das Dänische Löffelkraut: Diese zarte Pflanze wächst eigentlich auf Salzwiesen an Nord- und Ostsee. Von dort aus hat sie sich entlang der Autobahnen immer weiter nach Süden ausgebreitet. Auf dem Mittelstreifen und am Straßenrand findet sie nämlich fast ideale Lebensbedingungen: Durch das Streusalz im Winter ist der Boden genau so salzig wie in ihrer Heimat. Die Hitze im Sommer ist ihr egal, denn sie blüht schon im März und April und ist dann eine willkommene Nahrungsquelle für Insekten, die mal eben an der Autobahn vorbeischauen.
Samen aus Südafrika
Oder das Schmalblättrige Greiskraut: Als gebürtige Afrikanerin macht der Pflanze die Sommerhitze nichts aus. Sie beginnt im Juli zu blühen, wenn es auf der Autobahn am heißesten ist. Bis zu 80 Grad wurden im Hochsommer schon gemessen, denn der Asphalt reflektiert die Hitze wie ein Spiegel. Perfekt für das Greiskraut. Nicht nur an der Autobahn wächst das robuste Kraut, sondern du kannst es auch an Bahngleisen und auf alten Industriegeländen entdecken. Wie es nach Europa gekommen ist? Mit Schafswolle aus Südafrika - und dann natürlich über die Autobahn. Wahrscheinlich hafteten seine Samen an den Reifen der LKW, sind irgendwann abgefallen - und auf dem kleinen Grünstreifen an der Autobahn aufgegangen.
Wie kommen die Pflanzen auf die Autobahn?
Wie die Biologen vermutet hatten, fanden sie bei der Untersuchung der A 40 neben und auf der Autobahn recht viele verschiedene Pflanzenarten. Dabei ist ihnen besonders aufgefallen, dass darunter viele hoch spezialisierte Pflanzenarten waren. Wie kommt das?
Hohe Anpassung
Das erklären die Wissenschaftler so: Die Pflanzen, die auf dem kargen Mittelstreifen leben, haben fast keine Konkurrenz - also zum Beispiel keine hohen Bäume oder Sträucher, die das Licht nicht durchlassen oder Pflanzen, die sich besser vermehren können und ihnen die Nährstoffe wegnehmen. Im Wald, auf dem Feld oder einer Weide wären ihre Samen gar nicht aufgegangen. Das ist der Grund dafür, warum die Biologen so viele Pflanzenarten gefunden haben, die an ganz besondere Bedingungen angepasst sind
Die Autobahn ist kein Ort für Tiere
Allerdings: Wenn die Vielfalt der Pflanzenarten auch relativ hoch ist, gibt es doch sehr wenige Tiere auf und direkt neben der Autobahn. Für sie ist die Autobahn kein lebenswerter Ort. Zwar gibt es Vögel und Insekten, die auf einen Sprung vorbeikommen, aber dauerhaft leben können sie hier nicht.
Gefährliches Hindernis
Im Gegenteil: Die Autobahn zerschneidet Lebensräume, hindert die Tiere an ihrer natürlichen Verbreitung und erschwert den Austausch zwischen den einzelnen Vertretern einer Art. Für einige Pflanzen und wenige widerstandsfähige Kleintiere kann die Autobahn ein Lebensraum sein - für die meisten jedoch ist sie ein gefährliches Hindernis.